Steuerzinsen verfassungswidrig – teilweise

Seitz Weckbach Fackler & Partner

Wiederholt hatten wir Ihnen auf dieser Seite schon über die Diskussion und den jeweiligen Stand der Rechtslage zur Verfassungsmäßigkeit der sog. Steuerzinsen berichtet – also derjenigen Zinsen in Höhe von 0,5% monatlich (= 6% jährlich), die bei Nachforderungen des Finanzamts oder Erstattungsansprüchen des Steuerpflichtigen nach einer Karenzzeit von regulär 15 Monaten nach Ende des Steuerjahres fällig werden.

In der letzten Woche ist nun die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu zwei Verfassungsbeschwerden zu dieser Zinsthematik veröffentlicht worden, so dass unsere “Wasserstandmeldungen‘“ zur verfassungsrechtlichen Zinsdiskussion auf dieser Seite vom 01.06.2018, 28.06.2018 und 29.01.2019 damit einen vorläufigen Abschluss gefunden haben – jedenfalls teilweise.

Das BVerfG hat ausgesprochen, dass die Zinsen in der gesetzlich normierten Höhe von 0,5% monatlich (= 6% jährlich) auf Grund des zwischenzeitlich verfestigten Niedrigst-Zinsniveaus ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig sind, das bisherige Recht für die Jahre bis 2018 aber „weiter anwendbar“ bleibt. Dies bedeutet, dass die Verfassungswidrigkeit der sog. Vollverzinsung gemäß § 233a, 238 AO für die Jahre bis 2018 aller Voraussicht nach folgenlos bleibt; erst für die Jahre ab 2019 hat das BVerfG die Unanwendbarkeit dieser Normen ausgesprochen und den Gesetzgeber verpflichtet, bis Juli 2022 eine angemessene (verhältnismäßige) Neuregelung zu treffen.

Praktisch bedeutet dies folgendes:

  • Für die Jahre 2014 bis 2018 bleibt es aller Voraussicht nach bei 6% Zinsen für Steuernachforderungen und Erstattungen (“aller Voraussicht nach“ deshalb, weil der Gesetzgeber jedenfalls die Möglichkeit hätte, mit Blick auf die festgestellte Verfassungswidrigkeit für die Jahre ab 2014 eine Neuregelung zu treffen, dies aber wegen des Spruchs aus Karlsruhe, der die Fortgeltung des bisherigen Rechts bis 2018 zulässt, aller Voraussicht nach nicht tun wird);
  • Für die Jahre ab 2019 muss der Gesetzgeber tätig werden und bis zum 31.07.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung treffen – wohl mit Rückwirkung auf den 01.01.2019.
  • Da das BVerfG einen neuen Zinssatz nicht vorgegeben hat, hat der Gesetzgeber hier eine gewisse Freiheit; denkbar wäre möglicherweise die Hälfte des bisherigen Zinssatzes, also 0,25% monatlich, entsprechend 3% jährlich.
  • In Nachzahlungsfällen sollten Bescheide mit Zinsfestsetzungen für Zeiträume ab 2019 also offengehalten werden; für Erstattungszinsen gilt nach den Regeln der Abgabenordnung allerdings Vertrauensschutz.
  • Für Bescheide zur Einkommensteuer 2019 hat das Ganze aktuell noch keine Bedeutung. Denn mit Rücksicht auf die Corona-Pandemie wurden für den Veranlagungszeitraum 2019 nicht nur die Abgabefristen für die Steuererklärung verlängert, sondern auch die zinsfreie Karenzzeit von regulär 15 Monaten (siehe oben) auf 21 Monate nach Ende des Steuerjahres und damit bis zum 30.09.2021 – bis dahin fallen also ohnehin keine Zinsen an.
  • Abzuwarten bleibt zunächst noch, was der Bundesminister der Finanzen (BMF) zu der seit 2018 auf Antrag gewährten Aussetzung der Vollziehung (AdV) von Zinsfestsetzungen bestimmen wird. Bekanntlich hatte der BMF mit Schreiben vom 14.06. und 14.12.2018 angeordnet, dass – vorläufig bis zu einer Entscheidung des BVerfG – in allen Fällen, in denen seitens der Steuerpflichtigen gegen eine Zinsfestsetzung Einspruch eingelegt wurde, für Verzinsungszeiträume ab dem 01.04.2012 ohne weitere Diskussion AdV zu gewähren war. Diese Aussetzungendürften nun widerrufen werden, was im Einzelfall größere Probleme bereiten kann.

 

Autor: Dr. Rudolf Wittmann

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